Nummer 19
Samstag, 19. Dezember 2020
Auch das klügste Wort
bleibt am Ende nur Geschwätz,
wenn es nicht auf
irgendeinem Wege
zu Taten führt.
Arthur Schnitzler
So, jetzt habe ich viel geschrieben und philosophiert. Ich habe erzählt, was schöne Momente für mich waren und an ein paar schöne oder wichtige Eigenschaften erinnert. Ich habe tolle Geschichten zusammengesucht und aufgezählt, was für Verhaltensweisen lobenswert sind.
Und ich habe mich in den letzten Tagen auch immer wieder dabei erwischt, wie ich doch gelästert habe, wie ich mir doch was zu Herzen genommen habe, wie ich mir doch keine Zeit genommen habe, wie ich doch nicht runterfahren konnte. Toll, was ist geblieben von den Worten?
Also werden wir gemeinsam die letzten Tage doch einfach nutzen, um das ein oder andere auch einmal in die Tat umzusetzen, oder? Viele von euch haben jetzt sogar Ferien und werden bis zum letzten Kläppchen keine beruflichen Verpflichtungen haben, also ist Zeit genug vorhanden.
Fangen wir doch mit der Dankbarkeit an. Ich weiß, das war doch auch am Anfang des Kalenders schon mal Thema gewesen. Ihr erinnert euch? Ward ihr an dem Tag aufmerksamer, was dieses Gefühl angeht? Und vor allem, habt ihr diesem Gefühl auch Ausdruck verliehen?
Stellt euch vor ihr hättet nun eine halbe Minute Zeit, um so viele Dinge, Menschen, Situationen aufzuzählen, in denen ihr oder für die ihr dankbar seid. Wann habt ihr diesen Menschen das das letzte Mal direkt gesagt – und ich meine nicht das labbrig dahingeplätscherte Danke, das sich leider oft fast anhört wie eine Floskel
Auch wenn es eine Kleinigkeit ist, aber der Unterschied zwischen einem „Schön, dass Sie mich bei der Auswahl so gut beraten haben“ und einem Danke allein ist immens. Leider ist dieses kleine Wort schon ein wenig abgelutscht und zeigt so ganz für sich nicht mehr die Wirkung, die es haben sollte. Es sei denn, man zeigt in seinen Gesten in seiner Mimik diese Dankbarkeit.
Also, wer steht auf eurer Liste? Wen könntet ihr spontan anrufen oder aber auf altbewährte Weise ein paar Zeilen schreiben? Stellt euch vor, wie diese Person dann in ein paar Tagen den Briefkasten öffnet und eure Zeilen liest…
Stellt euch vor, was die Kassiererin im Supermarkt zuhause erzählen wird, wenn ihr ihr sagt, dass ihr froh seid, dass sie so freundlich ihren Job macht.
Macht euch ein Bild davon, wie der Paketbote staunt, wenn ihr ihm eine Schokolade in die Hand gebt, weil er eure Pakte so zuversichtlich abstellt.
Und stellt euch vor, wie gut sich das anfühlt, wenn ihr abends im Bett liegt und euch ganz bewusst ist, wofür ihr an diesem Tag so alles dankbar ward.
Danke für’s lesen!
Eines
Tages begab sich das Leben auf die Wanderschaft durch die Welt. Es
ging und ging, bis es zu einem Menschen kam. Der hatte so
geschwollene Glieder, dass er sich kaum rühren konnte.
“Wer
bist du?” fragte der Mann.
“Ich
bin das Leben.”
“Wenn
du das Leben bist, kannst du mich vielleicht gesund machen”, sprach
der Kranke.
“Ich
will dich heilen”, sagte das Leben, “aber du wirst mich und deine
Krankheit bald vergessen.”
“Wie
könnte ich euch vergessen!” rief der Mann aus.
“Gut,
ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja sehen”,
meinte das Leben. Und es bestreute den Kranken mit Staub, den es vom
Wege genommen hatte. Kaum war das geschehen, war der Mann gesund.
Dann
zog das Leben weiter und kam zu einem Leprakranken.
“Wer
bist du?” fragte der Mann.
“Ich
bin das Leben.”
“Das
Leben?” sagte der Kranke. “Da könntest du mich ja gesund
machen.”
“Das
könnte ich”, erwiderte das Leben, “aber du wirst mich und deine
Krankheit bald vergessen.”
“Ich
vergesse euch bestimmt nicht”, versprach der Kranke.
“Nun,
ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja sehen”,
sprach das Leben. Es bestreute auch diesen Mann mit Staub vom Wege,
und der Kranke ward sogleich gesund.
Wieder
begab sich das Leben auf die Wanderschaft. Nach vielen Tagen kam es
schliesslich zu einem Blinden.
“Wer
bist du?” fragte der Blinde.
“Das
Leben.”
“Ach,
das Leben!” rief der Blinde erfreut. “Ich bitte dich, gib mir
mein Augenlicht wieder!”
“Das
will ich tun, aber du wirst mich und deine Blindheit bald
vergessen.”
“Ich
werde euch bestimmt nicht vergessen”, versprach der Blinde.
“Nun
gut, ich will in sieben Jahren wieder kommen, dann werden wir ja
sehen”, sagte das Leben, bestreute den Blinden mit Staub vom Wege,
und der Mann konnte wieder sehen.
Als
sieben Jahre vergangen waren, zog das Leben wieder in die Welt. Es
verwandelte sich in einen Blinden und ging zuerst zu dem Menschen,
dem es das Augenlicht wieder gegeben hatte.
“Bitte,
lass mich bei dir übernachten”, bat das Leben.
“Was
fällt dir ein?” schrie der Mann es an. “Scher dich weg! Das
fehlte mir gerade noch, dass sich hier jeder Krüppel breit macht.”
“Siehst
du”, sagte das Leben, “vor sieben Jahren warst du blind. Damals
habe ich dich geheilt. Und du versprachst, deine Blindheit und mich
niemals zu vergessen.”
Darauf
nahm das Leben ein wenig Staub vom Wege und streute ihn auf die Spur
dieses undankbaren Menschen. Von Stund an wurde er wieder blind.
Dann
ging das Leben weiter, und es gelangte zu dem Menschen, den es vor
sieben Jahren von der Lepra geheilt hatte. Das Leben verwandelte sich
in einen Leprakranken und bat um Obdach.
“Pack
dich!” schrie der Mann es an. “Du wirst mich noch anstecken!”
“Siehst
du”, sagte das Leben, “vor sieben Jahren habe ich dich von der
Leprakrankheit geheilt. Damals hast du versprochen, mich und deine
Krankheit niemals zu vergessen.” Darauf nahm das Leben ein wenig
Staub vom Wege und streute ihn auf die Spur des Mannes. Im selben
Moment wurde der Mann wieder von der Leprakrankheit befallen.
Schliesslich
verwandelte sich das Leben in einen Menschen, dessen Glieder so
geschwollen waren, dass er sich kaum rühren konnte. So besuchte es
jenen Mann, den es vor sieben Jahren zuerst geheilt hatte.
“Könnte
ich bei dir übernachten?” fragte ihn das Leben.
“Gern,
komm nur weiter”, lud der Mann das Leben ein. “Setz dich, du
Armer, ich will dir etwas zu essen machen. Ich weiss recht gut, wie
dir zumute ist. Einst hatte ich ebensolche geschwollenen Glieder.
Gerade ist es sieben Jahre her, als das Leben hier vorüber kam und
mich gesund machte. Damals sagte es, dass es nach sieben Jahren
wieder kommen wolle. Warte hier, bis es kommt. Vielleicht wird es
auch dir helfen.”
“Ich
bin das Leben”, sagte das Leben nun. “Du bist der einzige von
allen, der weder mich noch seine Krankheit vergessen hat. Deshalb
sollst du auch immer gesund bleiben.”
Als
es sich dann von dem guten Menschen verabschiedet hatte, sagte es
noch: “Ständig wandelt sich das Leben. Oft wird aus Glück
Unglück. Not verwandelt sich in Reichtum, und Liebe kann in Hass
umschlagen. Kein Mensch sollte das jemals vergessen.”
Afrikanisches Märchen, nacherzählt von Dietrich Steinwede
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